Erziehung
I.
Der junge Mann stand in der Mitte des Raumes.
Der weiche Teppich streichelte seine schmerzenden Fußsohlen.
Nach der Arbeit hatte man ihn nach oben geschickt.
Er kannte den Weg. Er wusste was ihm bevorstand. Er meinte es zu wissen.
Er war ohne Widerspruch gekommen und eingetreten.
Die schwere Tür hatte sich von selbst hinter ihm geschlossen. Es war seine Tür. Er wusste, seine Tür war kein Ausgang.
Es war ein schöner Raum. Warm. Angenehm dunkel, die Fenster hinter schweren Samtvorhängen.
Ganz anders als die kalten grau-weißen Neonräume unter ihm.
Ein großer Schreibtisch. Alt, massiv und doch elegant. Er sah leer aus bis auf eine wunderschöne antike Messinglampe.
Sie gab wenig Licht. Doch seine erfahrenen Augen erkannten die langen schmalen Handschuhe, schwarz,
aus dünnem weichen Leder. Eine schlanke Reitgerte gehörte dazu, ebenfalls schwarz.
Man konnte sie nicht sehen. Aber er wusste, sie war da.
Passend zum Schreibtisch ein Schrank, kunstvoll verziert. Vielleicht lag die Gerte noch dort. Bei den anderen Dingen.
In der Ecke stand eine Bank.
II.
Es war sein drittes Mal.
Beim ersten Mal waren zwei Aufseher dabei. Sie mussten nicht eingreifen. Aber sie waren da.
Beim zweiten Mal waren sie auch da. Sie langweilten sich.
Hätten sie gehen können ? Er war sich nicht sicher.
Heute war er allein.
Bald würde sie kommen.
Sie ?
Gab es mehr Erzieherinnen ? Niemand hatte ihm etwas gesagt.
Er hatte zu ihr aufgesehen, mehrfach. Es war verboten, er wusste es. Er hatte es doch getan.
Er kannte die Strafe. Aber er konnte nicht anders. Sie war schön, zu schön..
Selbst die isolierte Stahltür durch die er gekommen war, seine Tür, sah von innen viel besser aus. Es gab noch zwei Türen.
Es waren massive große Eichenholztüren, mit Täfelung und zwei Flügeln. Die anderen Türen hatten fein gravierte Messingtafeln.
Auf der einen stand „Erziehung“. Auf der anderen stand „Besinnung“. Er kannte die Räume hinter diesen Türen.
Seine Tür hatte keine Tafel. Der junge Mann war nackt. Sein einziges Kleidungsstück lag ordentlich abgelegt hinter ihm.
Er hatte die Beine gespreizt und die Hände auf den Rücken gelegt.
Der gesenkte Kopf zwang den Blick auf sein steifes Glied. Er schämte sich.
Sie sah ihn auf dem Bildschirm.
Sie mochte ihn. Sie mochte alle ihre Sträflinge. Es war ihre Arbeit, sie zu mögen. Aber ihn mochte sie besonders. Er war wild.
Im Erziehungsraum arbeitete sie länger als sonst, wenn er da war. Für die Nacht im Besinnungsraum legte sie mehr Fesseln an
und zog sie straffer als bei den anderen. Sobald es ging, hatte sie die Aufseher nach unten geschickt.
Heute kam er allein.
IV.
Seine Eltern hatte er gehasst. Immer. Und er hatte es auch gezeigt.
Sie hatten ihn adoptiert als er klein und niedlich war. Wahrscheinlich weil der Alte selber keinen hochbrachte.
Später hätte der puritanische Vater ihn gerne geprügelt. Aber es war gegen das Gesetz und der Alte fürchtete
um die Reputation in seiner stinkenden Kleinstadt. Als sie dann in der Großstadt wohnten, wollte er es nachholen.
Aber da war er schon stark und der Vater bekam Angst.
Manchmal hatte er vom Internat geredet. Die Mutter barmte.
Nichts geschah. Der Junge hatte es bald vergessen. Er zog weiter herum mit seinen Freunden.
Rauchte Joints und freute sich daran, ein Wilder zu sein.
Manchmal war er sehr wild.
Mit 18 bekam er ein Urteil. Ohne Bewährung, für lange, für sehr lange.
Er fühlte sich schuldlos und wehrte sich. Er wurde bestraft und wehrte sich wieder.
Das mochte man nicht. Sie ließen ihn schmoren, allein. Ihm war es recht. Ihnen war es nicht genug.
Sie kamen mit Ketten, spritzten ihn stumm, brachten ihn fort.
Heute schien ihm, als wäre es Jahre her.
Er wusste nicht wo er war. Im Flugzeug hatten es mehr Spritzen gegeben.
Und hier hatte noch niemand ein Wort mit ihm gesprochen.
Aber er würde es herausfinden. Er war schlau. Er war erst vier oder fünf Wochen hier.
Vielleicht, er wusste es nicht so genau. Es gab keine Uhren und es gab keine Kalender.
Es gab nur das rote und das grüne Licht in seiner Zelle, und die Stöckchen der Aufseher.
Die sahen klein aus, nicht wirklich gefährlich. Mehr wie ein Zeigestock, der sie ja auch waren.
Er wusste noch nichts von der elektrischen Ladung in diesen Stöckchen.
Die anderen hätten es ihm sagen können, aber sie sprachen nicht. Sie hatten es gesehen.
Ein Häftling war wüst geworden und hatte einen Aufseher angefallen. Die Stöckchen hatten gearbeitet,
zuviel gearbeitet. Das war falsch, es gab Aufregung. Die Sträflinge erfuhren nichts von der Aufregung.
Aber ein Platz war frei geworden.
Ein Platz für den Wilden.
V.
Er musste fliehen. Er würde es schaffen. Vielleicht mit dem Wäscheauto.
Oder er würde über die Mauer klettern. Er konnte gut klettern. In seinem vorigen Leben war er allen voraus.
Oder er versuchte es bei der Küchenarbeit.
Doch wo er jetzt war, gab es kein Wäscheauto, jedenfalls hatte man noch nie eines gesehen.
Die Anzüge, die sie jede Woche bekamen waren immer neu, wie aus einer Fabrik, ein unendlicher Vorrat,
der nie ausgehen würde.
Es gab auch keine Mauer über die man klettern konnte.
Die einzigen Mauern mit einem Himmel darüber, waren glatter Beton und über 10 m hoch.
Sie gehörten zum Innenhof. Die Sträflinge machten hier ihren Mittagssport, jeder in seiner eigenen,
zur Mitte offenen Box.
Der Himmel war in Quadrate zerschnitten. Der Hof war oben vergittert.
Die Übungen waren auf Piktogrammen an der Wand vorgeschrieben. Wieder kein Hinweis, wo er war.
Wenn seine Schmerzen es zuließen, übte er mehr als nötig. Er wollte fit sein.
Für seine Chance.
Aber es gab auch keinen Küchendienst.
Es gab überhaupt keine Küche.
Das Essen kam aus Automaten.
VI.
Es war eine teure Einrichtung.
Hier sah alles neu aus. Vielleicht auch nur, weil nichts kaputt gehen konnte.
Sie waren zwölf. Alle Zellen waren belegt.
Die Zellentüren waren geschlossen, aber nicht verschlossen. Jeder Häftling kontrollierte sich selbst, auch er.
Rotes Licht, grünes Licht. Nicht mehr lange, dachte er.
Es gab keine bestimmte Zelle. Je nachdem, wie man nach der Arbeit ankam, musste man eintreten.
Das machte ihm nichts. Sie waren ohnehin alle gleich. Eine schmale Pritsche mit Kunststoff bezogen, sonst nichts.
Hart, aber ihm war es egal. Die dünnen Decken waren jeden Abend neu
und den Anzug musste man ohnehin vor die Tür legen.
Eigentlich gäbe es für dreizehn Sträflinge Platz, überlegte er. Fast jede Nacht war eine Zelle leer.
Heute würde es seine sein.
VII.
Die neuen Decken waren wohl nötig, ebenso wie die dumpfe Musik, die immer im Kreis die ganze Nacht lief.
Die nackten Männer stöhnten und masturbierten. Manchmal schrie einer im Schlaf.
Er wusste nicht, ob auch er schrie. Er glaubte schon, denn er konnte nicht ständig auf dem Bauch liegen
und sein Rücken schmerzte noch immer.
Anfangs hatte auch er sich jede Nacht befriedigt, manchmal sogar tags beim Arbeiten in die Hose gespritzt.
Inzwischen war er ruhiger geworden.
Schlimmer war seine Blase. Die anderen hatten wohl keine Probleme damit. Jede Nacht wachte er zu früh auf,
starrte auf die rote Lampe und quälte sich. Er hatte aufgehört abends zu trinken, aber es half nicht viel.
Er wusste nicht, was besser wäre, in die Decke zu pinkeln oder die Zelle zu verlassen.
Inzwischen wusste er, dass kein Aufseher ihm etwas tun würde. Sie würden nur einschreiten,
falls er reden wollte oder ihrem Stöckchen nicht folgte.
Die Aufseher schlugen nicht. Niemand wurde gefesselt. Nur reden durfte man nicht.
Es war die einzige Regel hier. Auch die Aufseher sprachen nicht. Vielleicht untereinander,
oben, in ihrer Glaskuppel. Die Sträflinge konnten es nicht hören.
Trotzdem drückte er, wenn er fast zu platzen drohte, lieber mit der Hand zurück.
In diesem Druck lag Angst.
Und ja, er der wilde junge Mann hatte Angst, schreckliche Angst. Es war die Angst vor den zwei Türen.
Beim zweiten Mal hatte Sie genau gewusst, wie oft er gewichst hatte und es gab Steigerungen,
die er nicht erleben wollte. Auch er nicht.
Einmal hatte er gesehen, wie ein Häftling direkt von der Arbeit weggeführt wurde.
Er wusste, sein Leidensgenosse hatte es darauf angelegt, denn die Arbeit war nicht schwer.
Erst am dritten Morgen war der Sträfling zurück, bleich, mit Tränenspuren im Gesicht, noch stummer als sonst.
Seine Teile fügte er jetzt schneller als die anderen.
Die zwölf Stunden Arbeit am Fließband machten ihm nichts aus.
Das Band lief langsam und die Teile waren einfach. Er konnte träumen.
Schlimmer waren die Sonntage. Da waren die Zellen wirklich verschlossen.
Es gab auch kein Essen und keinen Sport. Dafür geistliche Musik, immer dieselbe.
Lief er zu sehr hin und her, kam der Aufseher und zeigte mit dem Stöckchen auf die Pritsche.
Anfangs hatte er sehr getrauert und seine Wut in den Schlaf geheult. Jetzt war es besser geworden.
Alle Sträflinge wurden am Kopf und unten herum rasiert. Der einzige Moment, für den sie alle zwei Tage,
Hände nach oben, gefesselt wurden. Was hatten sie getan, die anderen ? Jung wie er, doch die Gesichter alt ?
Fragen konnte er nicht. Zu Anfang hatte er doch einmal versucht zu flüstern.
Erschrocken und Angst in den Augen hatten sie sich abgewandt.
Seither sprach er nur noch stumm mit sich selbst.
VIII.
Früher hatte der junge Mann schöne lange Haare gehabt, braun und naturgewellt.
Mädchen und auch Kerle flogen darauf. Sein schönes Gesicht mit den dunkelbraunen,
fast schwarzen Augen und der feingliedrige, zarte, beinahe mädchenhafte Körper waren ihm geblieben.
Manchmal spürte er begehrliche Blicke von älteren Häftlingen und war froh über seine Einzelzelle.
Die grauen Overall-Anzüge waren aus festem steifen Stoff. Guter Stoff, nicht rau oder kratzig.
Aber es gab keine Unterwäsche, keine Socken, keine Schuhe.
Er war empfindlich und hatte lange gebraucht sich daran zu gewöhnen.
Das die Anzüge keine Taschen hatten, war ihm nicht wichtig.
Es gab nichts, was er hätte einstecken können. Höchstens die Zahnbürste die an seinem Waschbecken lag.
Es war eine noble Anstalt.
In langer Reihe hatte jeder der zwölf sein Edelstahlbecken, daneben ein eigenes Klo ohne Brille, Dusche gegenüber.
Alles offen und von der Kuppel gut zu sehen, Wasser nur kalt und ferngesteuert,
aber weiß gefliest und immer frisch gesäubert wenn die Häftlinge kamen.
Zwölf Einzeltische beim Essen. Sie mussten stehen, aber jeder konnte essen soviel er wollte.
Trotzdem hatte er abgenommen. Das Essen aus den Automaten war immer gleich, Milchbrei zum Frühstück
und pürierte Suppe zum Abend. Die reichlich beigemixten Geschmacksstoffe änderten nichts an seinem Ekel.
Mittags war Sport, da gab es nichts zu essen. Brot gab es reichlich.
Auch konnte man sich die Schüssel aus Weichplaste immer wieder nachfüllen. Er tat es nie.
Nur um Kraft für die Flucht zu sammeln, zwang er sich Tag für Tag dazu, eine halbe Portion zu schlürfen.
IX.
Doch, er würde fliehen. Er würde den Weg finden. Er war stark. Er würde es schaffen. Er war ganz sicher.
X.
Und er würde zurückkommen. Ganz bestimmt würde er zurückkommen.
Schwerbewaffnet.
In schönen Sachen. Schwarz, wie die seiner Erzieherin.
Fast wie die Uniform einer stolzen Armee, seiner Armee.
Er würde Soldat, Offizier und General zugleich sein. Er brauchte keine Helfer. Niemanden.
Und er würde sie alle verjagen. Die Aufseher mit ihren Stöckchen und die Sträflinge mit ihren Glatzen. Töten ?
Töten würde er niemand, dafür waren Sie zu erbärmlich. Nur treten würde er. Treten.
Mit seinen schweren schwarzen Stiefeln würde er die Essenautomaten zertreten und das Fließband
und die Waschbecken und Duschen und alles, alles.
Und dann würde er wieder hinaufgehen. Er würde in diesen Raum gehen. Durch seine Tür.
Niemand anderes, niemals mehr. Nur er. Er allein.
Und dann würde er die Stiefel ausziehen und sich in die Mitte des Teppichs stellen. Darunter eine Luftblase mit leichtem Zischen wegstreichend.
Mit einem leichten Zischen ....
XI.
Der Schlag traf ihn zwischen die Beine. „Träum nicht !“
Die Spitze des dünnen, festen Stockes zeigte zur Prügelbank.
Gehorsam, fast ein wenig zu schnell, ging der wilde Junge hinüber, kniete sich hin,
legte den Beckengurt um und zog ihn fest um seine Hüften, legte Oberkörper und Arme nach vorn.
Sanft schloss er die Augen.